Zur Differenztheorie

Bevor das Essen schmeckt, muß man Hunger haben, bevor das Bier schmeckt, muß man Durst haben. Ein Gefühl der Entbehrung ist also Voraussetzung für den sinnlichen Genuss. Dabei kommt es nicht so sehr darauf an, wie gut das Essen oder das Bier, sondern wie groß der Hunger oder der Durst ist.

Wer einmal eine anstrengende vielstündige Hochgebirgswanderung gemacht hat, wird zweierlei nicht vergessen: Den Blick vom Gipfel, so man ihn hat. Auf jeden Fall aber den herzhaften Biss in ein Vesperbrot und den köstlichen Schluck aus der Wasserflasche.

Stellen wir uns umgekehrt vor, wir wollten denselben Genuss erreichen bei einer Spätsamstagabendesseneinladung. Stellen wir uns vor, das Beste aus Küche und Keller würde uns erwarten und stellen wir uns weiter vor, wir hätten uns vorher den Appetit verdorben mit Unmengen von Chips, Erdnüssen und Süßem, wie das zuweilen an verregneten Samstagnachmittagen vorkommen soll. In dieser Situation könnte uns einer der Großen aus Baiersbronn bekochen und dennoch würde sich kein Genuss beim Essen und Trinken einstellen.    

Diese einfachen Zusammenhänge kann man in einer Gleichung darstellen, die zwei Größen miteinander in Beziehung bringt: Das Maß der Entbehrung und die Qualität der Sinnesreize. Genuss ist dann definiert als Produkt aus Grad der Entbehrung und Qualität der Sinnesreize, im folgenden als E und Q bezeichnet.

Die Spreizung der beiden Faktoren für die Multiplikation ist auf Skalen möglich.

Faktor Entbehrung (E)

z.B. Hunger.

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

Faktor Qualität (Q)

z.B. Qualität des Essens 

1 2 3

Aus den unterschiedlichen Längen der Skalen ergibt sich, daß bei der Multiplikation Höchstwerte nur zu erzielen sind, wenn E ausreichend groß ist. Auch kann man unschwer ersehen, daß ein Genußwert von zum Beispiel 6 auf verschiedene Weise zu erreichen ist. Einmal durch 2 E und 3 Q. Oder aber durch 6 E und 1 Q, was die Eingangsbeobachtungen in abstrakter Form wiedergibt.      

Das sind einfache Zusammenhänge aus dem Bereich der Sinnenreize. Aus ihnen wird deutlich, daß die Werbung nicht recht hat, wenn sie uns einredet, daß der höchste Genuss aus der teuersten Flasche Wein, der besten Küche, dem teuersten Fisch usw. kommt. Vielmehr hat den weitaus größere Anteil am Genuss das eigene Vorverhalten, das jeder für sich selbst und völlig kostenlos steuern kann.   

Das Überwinden einer Differenz hat darüber hinaus Bedeutung für die eigene private und öffentliche Wahrnehmung von Leistungen. Öffentliche Anerkennung  und private Befriedigung kommen aus der Überwindung einer Differenz. Stillstand wird sowohl von der Öffentlichkeit als auch von einem selbst nicht wahrgenommen.

Beispiele: Wenn der Musiklehrer zusammen mit seinem Schüler ein Stück vorträgt und beide gleich gut gespielt haben, wird nur der Schüler beklatscht. Vom Lehrer wird nichts anderes erwartet; der Schüler hat im Spiel gezeigt, daß er den Unterschied zu einem bestimmten höheren Niveau geschafft hat. Ebenso unterschiedlich verhält sich die persönliche Befriedigung der beiden Spieler. Der Erfolg besteht darin, das vom Publikum nicht Erwartete, das nicht Selbstverständliche erfüllt zu haben.

Viele der Lebensstufen die man erklommen hat und die persönliche Freude und Befriedigung mit sich gebracht haben, die ersten eigenen schwankenden Meter auf dem Fahrrad, der erste Blick vom Bahnhof Santa Lucia Richtung Rialto, der Führerschein, Abitur, Abschluss des Studiums, Promotion und ähnliche unvergessliche Augenblicke, Situationen, Erfolge sind unumkehrbar und leider nur einmal erfahrbar. Wenn man so will ist unser Lebensziel und -streben nichts anderes als die Produktion von unvergesslichen Augenblicken.